Der Stamm der weissen Krieger Ralf Schmerberg entdeckt 1987 die Fotografie für sich und erarbeitet als Autodidakt die Möglichkeiten des Mediums. Er folgt nicht starren Konzepten und festgefahrenen Vorgaben, sondern entwickelt ausdruckstarke und stimmungsvolle Inszenierungen. Für die ungewöhnliche Umsetzung von Auftragsarbeiten erhält der Fotograf zahlreiche Auszeichnungen. Neben der Werbefotografie entstehen freie Arbeiten. Auf den enttäuschenden Verlauf des Umweltgipfels in Rio de Janeiro 1992 reagiert Ralf Schmerberg mit der Idee, das Mißverhältnis zwischen Erster und Dritter Welt in einer Bildserie zu thematisieren. Durch Reisen und die Begegnung mit Menschen in den verschiedensten Ländern der Erde entwickelt er eine andere, globale Weltsicht - die Grenzen aufzuheben und der Trennung und Diskriminierung entgegenzuwirken. Zur gleichen Zeit beginnt die Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Galeristen Peter Herrmann, der eine Galerie für traditionelle und zeitgenössische Kunst aus Afrika betreibt. Der Zugang zu den afrikanischen Masken führt zum Konzept für den Zyklus Der Stamm der weissen Krieger. Während der nächsten beiden Jahre entsteht eine Serie von Schwarzweißfotografien. Sie ist nach einem strengen Schema der absoluten Reduktion aufgebaut: Weiße Menschen, gänzlich nackt, tragen unterschiedliche Masken aus dem gesamten äquatorialen Kunstraum. Der Hintergrund bleibt für alle Aufnahmen gleich - ein trockener, lehmiger Boden, der in eine einfache architektonische Struktur übergeht. Für Ralf Schmerberg ist die Maske das Symbol für die Dritte Welt, der weiße Körper das Symbol für die Erste Welt. In den Fotografien werden diese beiden Elemente in eine Symbiose gebracht. Die für den Bilderzyklus ausgewählten Masken stammen aus Afrika, Südamerika, Asien und Ozeanien, befinden sich aber seit geraumer Zeit in europäischen Sammlungen oder im Kunsthandel. Jede Maske spricht ihre eigene Sprache, hat ihre eigene Identität. Alle Masken sind authentische Stücke, die im Kult benutzt wurden. Sie sind die wichtigsten Medien im Umgang mit überirdischen Mächten, sie dienen zur Verehrung der Götter und Ahnen, zur Vertreibung von Unheil und bösen Geistern und werden nur zur bestimmten Anlässen, wie beispielsweise Totenfeiern oder Treffen von Geheimbünden, getragen. Masken verkörpern übernatürliche Kräfte, daher gilt ihr Anblick als gefährlich für uneingeweihte, Fremde, oft auch für Frauen und nicht zuletzt sogar für den Maskenträger selbst. Die Maske wird zum Medium, Ralf Schmerberg interpretiert ihre Lesbarkeit neu. Er bricht und spiegelt Bedeutungen. Masken werden fast ausschließlich von Männern getragen. Beispielsweise die Elefantenmasken aus Kamerun : Sie stehen für Alter, Weisheit und gesellschaftlichen Status. Auch auf Schmerbergs Fotografie werden sie von einer kleinen Runde älterer Herren getragen. Dagegen ist die Harmonie, die von der schwangeren Frau mit der Eket-Mondmaske ausgeht, trügerisch - ein Bruch gegenüber dem ursprünglichen Gebrauch als Männermaske. Über Inhalt und Bedeutung der Masken wissen wir in der Regel nichts. Was uns fasziniert ist der Ausdruck, die sinnliche Erscheinung innerer psychischer oder geistiger Vorgänge. Ihre Expressivität ist für uns ein Synonym für Unmittelbarkeit, Unterbewußtes und Kult. Kunst und Magie sind ihnen eins. Gleichzeitig assoziieren wir zu den Masken ein exotisches - heiles Bild des Edlen Wilden, wie es seit Jean-Jacques Rousseau in der europäischen Vorstellungswelt besteht. Masken, Skulpturen und andere Objekte aus außereuropäischen Kulturen haben eine faszinierende Wirkung auf uns. Die afrikanische Kunst wurde besonders stark rezipiert. Maler, Bildhauer und Fotografen haben sich immer wieder mit ihrer eigenwilligen Formensprache, mythischen Kraft und ihrer starken Expressivität auseinandergesetzt. Masken ganz allgemein sind eng mit den Tabubereichen einer Gemeinschaft verbunden. Wir kennen Masken in unserer eigenen Kultur als heidnische Relikte, die während der Karnevalszeit ein ungestraftes Brechen von bestimmten Regeln erlauben. Auch die weißen Menschen, die im Stamm der weissen Krieger Masken tragen, brechen Tabus. Sie entblößen sich, obwohl ihre Körper nicht dem vorherrschenden Schönheitsideal entsprechen, das ja vor allem in der Werbung immer wieder reproduziert wird. Ralf Schmerberg arbeitet mit ganz normalen Menschen - mit ganz normalen Körpern. Er verzichtet auf Profimodelle und arbeitet mit Laien: Ältere und Jüngere, Männer , Frauen, Kinder sind auf seinen Fotografien so zu sehen, wie sie sind - klein, groß, dick oder mager, mit glatter oder faltiger Haut, mit Spuren des Lebens. Der Blick auf das Gesicht bleibt dem Betrachter verwehrt und konzentriert sich daher auf den Körper. Der Körper wird zur Form, es entstehen Analogien und Kontraste zur Form der Maske. Eine Annäherung, die Sprache des Körpers unterstützt und uns seine vielfältige, individuelle Beredsamkeit zeigt. Ralf Schmerberg enttäuscht unsere Erwartungshaltung, da wir zur exotischen Maske nicht den exotisch-erotischen Körper zu sehen bekommen, sondern einen Spiegel. Er stellt aber auch die Frage, wieviel von dem Anderen in uns steckt, dem Fremden, Wilden Kultischen, all dem, was in unserer Welt mühsam wegzivilisiert wird. Ralf Schmerberg spielt ein doppeltes Spiel mit den Setzungen Weiß und Schwarz, Mann und Frau, Zivilisation und Archaik. Ein Spiel, das die bitteren Wirklichkeiten von Hierarchie, Macht und Unterdrückung aufzeigt und vorgefaßte Meinungen dekonstruiert. Eine Konfrontation mit unseren eigenen Vorstellungen, den Bildern, die wir im Kopf haben. Die Präsentation des Bildzyklusses in einem Katalog ist eine Sache, eine Ausstellung, die auch die Möglichkeit bietet, einige der Masken im Original zu sehen, eine andere. Doch auch die vollkommensten Masken sind Bruchstücke, deren wichtigste Elemente fehlen: Musik und Tanz. In einer multimedialen Inszenierung präsentierte Ralf Schmerberg am 17. Juni 1994 den Stamm der weissen Krieger erstmals in seinem gesamten Umfang der Öffentlichkeit. Vor einer ohrenbetäubenden, hektischen Geräuschkulisse verwandelten sich totzivilisierte Individuen zu einem versöhnlichen Stamm, der sich unter Trommelklängen weißer und schwarzer Musiker formierte. Überdimensionale Projektionen der Schwarzweißfotografien ringsum an den Hallenwänden bildeten die Außenhaut der Performance. Im Inneren ließ sich ein ganzes Straßenbahndepot voller Menschen dazu hinreißen, Metallfässer in steeldrums zu verwandeln, während die nackten Maskenträger des Stamms mit rhythmischen Schritten kultische Kreise zogen. Durch die Performance wurde der Stamm der weissen Krieger sinnlich erfahrbar -sehen, hören, tanzen und trommeln. Karin Stellwaag für die © Galerie Peter Herrmann. Stuttgart 1994 |