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Peter Herrmann
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30.4.2021
        deutsch
Vorwort graue kleine Linie

 

Ich mache etwas, das man normalerweise nicht machen sollte. Ich übernehme einen mir zugesandten Artikel, den die Neue Züricher Zeitung am 25. April 2021 hinter der Bezahlschranke versteckte. Die Verfasserin Frau Prof. Dr. Brigitta Hauser-Schäublin, bei der ich anfragte, hat nichts gegen eine Veröffentlichung, weiß aber nicht, wie das Copyright gegenüber der NZZ liegt. Ich werde es klären

Da ich den Artikel für sehr wichtig halte, bin ich der Meinung, machen zu dürfen was ich tue und mache im Gegenzug Werbung für die NZZ, die nicht die unisono gleichgeschalteten Schuld-und-Sühne-Artikel der deutschen Presse bringt, sondern faktenbasierte Anschauungen. Es bleibt eine Ausnahme, dass ich nicht unmittelbar exakt kläre und fahre damit fort. Meine Seiten werden nur von einer sehr kleinen Kreis von Personen gelesen.

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Die lange Blutspur der Benin-Bronzen
  Aktivisten fordern, westliche Museen sollten "geraubte" Bronzen zurückgeben. Das wäre falsch, weil die Geschichte viel komplizierter ist, meint Brigitta Hauser-Schäublin

 

Strafexpedition der Briten in Benin

Bronzen vor dem Abtransport. Benin-City 1897

 

Den Benin-Bronzen – Gedenkköpfe von Königen des ehemaligen Kriegerstaates Benin (im heutigen Vielvölkerstaat Nigeria), Trophäenköpfe besiegter Rivalen sowie Reliefplatten mit heroisch-gewaltvollen Darstellungen – wird der Stempel "Raubkunst" aufgedrückt. Dahinter verbergen sich Vorwürfe von Gewalt, Aneignung und unrechtmässigem Besitz. Der Begriff entstammt den deutschen Aufarbeitungsanstrengungen bezüglich der Nazi-Vergangenheit. Mit "Raubkunst" wurde staatlich enteigneter Kunstbesitz wohlhabender Juden bezeichnet. Der mit dieser historischen Hypothek und dem entsprechenden Schuldgefühl belastete Begriff wurde, gerade in Deutschland, auch auf Kulturgüter übertragen, die während der Epoche des Kolonialismus in aussereuropäischen Gesellschaften erworben wurden. Die Bezeichnung "koloniale Raubkunst" geht von Schuldigen und Unschuldigen aus und verlangt, die "Täter" zu identifizieren und von ihnen Wiedergutmachung – Rückgabe des Geraubten – zu fordern. Dies entspricht den Forderungen "postkolonialer" Aktivisten, die selbstgerecht und blind für gegenwärtige Ausbeutungs- und Unrechtskontexte, den moralischen Drohfinger der Empörungskultur erheben.

Aus dieser Perspektive durchforsten neuerdings auch Schweizer Museen ihre Benin-Sammlungen; das Museum Rietberg ist dabei federführend. Insgesamt stammen 97 Objekte aus dem ehemaligen Königreich der Edo mit Sitz in Benin City. Eine noch unbekannte Zahl davon geht, wie die Museen schreiben, vermutlich auf die britische "sogenannte ‹Strafexpedition› von 1897" zurück; es handle sich also, wie "seit einigen [...] Jahren weitgehend anerkannt", um "Raubkunst". Die Formulierung "sogenannte ‹Strafexpedition›", also eine zweifache Relativierung, suggeriert, dass es gar keine Strafexpedition war. Ergänzt durch den angeblich "weitgehend anerkannten" Tatbestand der "Raubkunst", wird klar, dass auch hierzulande Provenienzforschung nach einem vorgegebenen Raster betrieben wird.

Selbstverständlich ist es wichtig, die Herkunft (Provenienz) von Objekten in Museen (und in Privatsammlungen) sowie die Umstände ihres Erwerbs zu klären. Heutige moralische Messlatten orientieren sich an internationalen Vereinbarungen wie der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (1954), der Unesco-Konvention (1970) über den rechtswidrigen Kulturguttransfer und den Menschenrechten. Sie jedoch unbesehen an Ereignisse der Vergangenheit anzulegen, die von anderen Rechts- und Wertvorstellungen geprägt waren, ist billig, besonders dann, wenn damit nur die Handlungen der "Täter", jedoch nicht diejenigen der "Opfer" bewertet werden. Gerade das Beispiel der Benin-Bronzen zeigt, dass "Täter" und "Opfer" gar nicht leicht voneinander zu trennen sind.

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Alte, komplizierte Verflechtungen
 

Seit dem 15. Jahrhundert unterhielt Benin Beziehungen mit europäischen Händlern. Die Kaufleute waren Vorboten der sich abzeichnenden Kolonisierung Afrikas, die Ende des 19. Jahrhunderts darin mündete, dass die Grossmächte Afrika unter sich aufteilten. Die Händler versorgten den König (Oba) tonnenweise mit Manillas (Armreifen aus Kupfer und Metalllegierungen), die als Rohmaterial zum Giessen der Benin-Bronzen heiss begehrt waren. Sie verkauften ihm auch Korallen, die als Halsschmuck zu Insignien des Königs wurden. Umgekehrt bezogen die Händler vom Oba verschiedenste Güter – Elfenbein, Pfeffer, Gummi, Palmöl – und vor allem auch Sklaven. Das waren Kriegsgefangene, die ein König von seinen Kriegszügen nach Hause brachte. Sie standen in seinem Dienste, wurden teilweise als Menschenopfer in Ritualen verwendet und auch an europäische Sklavenhändler verkauft. Von "Blutbädern" und "Massakern", welche die Benin-Krieger angerichtet hatten, berichten selbst Edo-Historiker. Ein Oba heuerte europäische Söldner an; ein anderer bat den deutschen Kapitän eines holländischen Schiffes, mit seinen Geschützen das Tor einer ummauerten Stadt eines "Widerspenstigen" aufzusprengen, worauf die Benin-Krieger eindrangen, die Bewohner töteten oder als Sklaven mitnahmen und die Stadt schleiften.

Das britische Verbot des Sklavenhandels (1807), von dem Benin während Jahrhunderten profitiert hatte, verlangte eine Umstellung in der Ökonomie. Der Oba monopolisierte den Handel auf Kosten der Itsekiri, Handelspartner der Briten. Die Briten drängten auf freien Handel. Im Innern des Königreichs begehrten Häuptlinge auf, und von aussen wurde es von islamisierenden Gruppen bedrängt, so dass der Oba mehrere tausend Mann zusammenzog, um wehrbereit zu sein. Die Briten setzten dem Oba 1892 einen Freihandelsvertrag vor, den dieser zwar unterschrieb, aber nicht einhielt. Eine diplomatische Mission sollte mit dem Oba direkt verhandeln, aber es war für die Briten klar, dass dieser später abgesetzt und durch einen Rat ersetzt werden sollte, der im Sinne der britischen Kolonialmacht handelte.

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Massaker und Vergeltungsschlag
 

Der Oba wollte zuerst die kurzfristig anberaumte Mission nicht empfangen, da er gerade ein Opferritual für seinen verstorbenen Vater abhielt. Er willigte aber schliesslich ein. Er schien seine Häuptlinge angewiesen zu haben, die Mission unbehelligt zu lassen. Doch die Kriegshäuptlinge beschlossen, die zehn Europäer und über zweihundert afrikanischen Träger und Führer zu töten. Offensichtlich hatten zudem Itsekiri das Gerücht gestreut, die Briten kämen in kriegerischer Absicht. Der Überfall mit Gewehren und Macheten auf die – wie einer der am Anschlag beteiligten Kriegshäuptlinge bestätigte – unbewaffnete Delegation geschah am 4. Januar 1897. Acht Europäer und eine grosse Anzahl Träger wurden niedergemetzelt. 80 abgeschlagene Köpfe und 130 Gefangene verbrachten die Krieger nach Benin Stadt, wo viele Gefangene offensichtlich als Menschenopfer endeten. Die Briten beschlossen kurzerhand eine Strafexpedition – also das, was heute als militärischer Vergeltungsschlag bezeichnet wird. Am 18. Februar 1897 nahm die aus britischen und afrikanischen Soldaten bestehende Truppe Benin ein, zerstörte die Stadt und zwang den König zur Unterwerfung. Die Briten stiessen dort auf verstümmelte Leichen und Ausrüstungsgegenstände der diplomatischen Mission sowie die dem Ahnenkult dienenden Altäre mit den Bronzen. Letztere wiesen noch deutliche Spuren der zuvor durchgeführten Menschenopfer auf. Einer der Militärärzte klopfte leicht an einen Bronze-Gedenkkopf und stellte fest, dass eingetrocknetes Blut herunterrieselte. Ein zweiter Militärarzt schrieb in seinem Bericht, dass er die Leiber von drei enthaupteten Europäern gesehen habe, 176 geköpfte Leichen in der Nähe und Überreste von Hunderten menschlicher Körper. Auch der bereits erwähnte Benin-Kriegshäuptling bestätigte die massenhafte Opferung von Menschen vor dem Militärschlag.

Die Briten stiessen auch auf mehrere hundert Bronze-Reliefplatten, halb verdeckt von Staub und Schmutz, der sich darauf im Verlauf langer Zeit angesammelt hatte. Sie konfiszierten sämtliche Gegenstände. Nach damaligen Normen war dies keine Plünderung. Plünderungen hatte der Kommandant verboten; damit war gemeint, dass nicht jeder Soldat das einsacken durfte, was ihm in die Hände fiel. Jedoch begannen Benin-Häuptlinge unmittelbar nach der Entmachtung des Oba zu marodieren, und der König beschwerte sich bei den Briten, dass ihm inzwischen seine eigenen Leute den Korallenschmuck, seine königlichen Insignien, gestohlen hätten. So weit zur "sogenannten ‹Strafexpedition›", wie dies die Schweizer Museen nennen.

Was wohl mit den vielen Bronzen und Elfenbeinstosszähnen – Symbole göttlich legitimierter Herrschaft und Gewalt – nach der Absetzung des Oba und seiner Verbannung ins Exil geschehen wäre, wenn die Briten sie zerstört hätten, wie dies schon damals islamisierende Gruppen in Afrika taten? Was wäre geschehen, wenn die Briten diese Objekte einfach vor Ort gelassen und nicht konfisziert hätten? Denn die Menschen vor Ort, die geglaubt hatten, der König könne als Schützling der Ahnen nicht dingfest gemacht werden, sondern sei in der Lage, durch übernatürliche Mittel – etwa als Vogel – zu entfliehen, realisierten, dass die Herrscherplastiken keine Macht mehr besassen. Zugegeben: Wir wissen nicht, was passiert wäre. Dennoch muss es möglich sein, über Alternativen nachzudenken. Jedenfalls wurden diese Objekte zu – unfreiwilligen, aber sorgsam behüteten – internationalen Botschaftern einer technisch-künstlerisch hoch entwickelten afrikanischen Kultur.

Würde nicht "Raub" als Ausgangspunkt der Provenienzforschung genommen, wäre es aufgrund dieser komplexen Verflechtungen auch von gewalttätigen Handlungen kaum möglich, eindeutige "Täter" und "Opfer" zu identifizieren.

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Vom Ahnenaltar zu "Kunst"
 

Das Schlagwort "Raubkunst" lenkt zudem von der vorkolonialen Geschichte der Objekte ab, ganz so, als setze Provenienzforschung politische Ziele vor wissenschaftliche Wahrheitsfindung. Die Kategorie "Kunst" blendet die Blutspur der Benin-Bronzen aus. Diese waren nicht Objekte der Erbauung, des Schöngeistigen und – schon gar nicht – ein medialer Ausdruck von Kritik am autokratischen und gewaltvollen Herrschaftssystem. Köpfe und vor allem Bronzeköpfe waren Quellen der Macht des Königs und Instrumente seiner Herrschaft über das eigene Volk. Die Benin-Bronzen waren Sakralgegenstände, die vergöttlichte frühere Herrscher verkörperten, manche auch besiegte Herrscher anderer Reiche, deren Köpfe abgeschlagen und den Bronzegiessern gebracht worden waren, damit sie ein Bildnis davon anfertigten. Es waren in erster Linie Tiere, aber auch Menschen – Sklaven, Widersacher, Rivalen –, die geopfert und vor den königlichen Altären mit den Bronzen enthauptet wurden. Auch Frauen wurden geopfert; sie wurden an Bäumen gekreuzigt und mit aufgeschlitzten Bäuchen den Aasgeiern – als göttlichen Boten – zum Frass überlassen. Aasgeier seien wie Truthähne und unbehelligt durch die Strassen spaziert, berichtete ein französischer Händler, zu dessen "Ehren" der Oba einen Mann enthaupten und das Blut über den Ahnenaltar sprenkeln liess. Das sind keine kolonialen Propagandageschichten, es gibt zahlreiche lokale Zeugnisse, welche die Menschenopfer belegen. Zudem haben Bronzegiesser solche Szenen in Plastiken verewigt.

Für die britischen Militärs waren die Benin-Bronzen keine Kunstobjekte. Generalkonsul Ralph Moor fand sie hässlich und Ausdruck übelsten Aberglaubens. Admiral Rawson vermutete in ihnen einen historischen Wert. Nur der Befehlshaber des Vergeltungsschlags, Reginald Bacon, war begeistert vom Detailreichtum der Gussarbeiten. Zu "Kunst" im heutigen Sinn wurden die Bronzen erst, als sie Ware im internationalen Kunsthandel wurden, entkoppelt von der Elite der Herkunftsgesellschaft und ihrer eigenen Geschichte beraubt.

Als monetär wertvolle Kunstgegenstände sind sie inzwischen zu Instrumenten von Edo-Identitätspolitiken geworden, ganz so, als handle es sich um geläuterte Kunst, befreit von der Last ihrer blutigen Geschichte. Sie werden geschildert, als wären sie Repräsentanten eines auch früher demokratisch regierten, friedfertigen Volkes, eines Volkes, das nun endlich seine Seele – die Benin-Bronzen – zurückhaben möchte. Kein Wunder, dass heute im Internet viele Blogs von Edo-Aktivisten und –Aktivistinnen, der neuen, alten Elite, existieren, welche die Geschichte Benins schönreden, historische Fakten als Fake-News, die Blutspur als Lüge und das Königtum als hilfloses Opfer britischer Aggression darstellen, dem nun endlich Genugtuung – Rückgabe der Objekte – zuteilwerden müsse.

Wo aber bleiben die Stimmen all der anderen, seien es diejenigen der "einfachen Leute" der Edo, der Nachkommen der in Benin als Sklaven gehaltenen Menschen oder jener afrikanischen Soldaten, welche nur knapp das Massaker überlebt hatten, weil sie von den Briten halbtot aus den Leichengruben geborgen worden waren? Wer leiht sein Ohr den Nachbargruppen, die Opfer der Benin-Aggressionen waren?

In die Benin-Bronzen sind materielle Verflechtungen, mehr noch: die Verwobenheit der Akteure miteinander – Abhängigkeiten und Komplizenschaft, Opfer- und Täterschaften – eingeschrieben. Es wäre an der Forschung, diese offenzulegen und in die Diskussionen mit einzubringen. Diese geteilte Geschichte legt auch eine multiple Eigentümerschaft der Benin-Objekte mit mehreren Shareholdern nahe. Wie diese konkret umgesetzt werden kann, müsste ausgehandelt werden.

In Benin City ist ein 100-Millionen-Dollar-Museum geplant, das auf Königsland stehen wird. Es ist dazu bestimmt, zumindest einen Teil der in europäischen Museen zu reiner Kunst transformierten Benin-Bronzen aufzunehmen. Dies würde dem ehemaligen Königreich, besser: der alten, neuen Elite zu einem Comeback verhelfen, ähnlich wie dies auch mittels eines Kulturzentrums der Yoruba in Lagos (und in anderen Ländern) geschieht. Damit ist eine politische Re-Ethnisierung mittels Kulturgütern und Museen verbunden, die auch auf Kosten der nationalen Einheit und der Nationalmuseen geht. Und das alles in einem jener Länder, die wegen ethnischer und religiöser Spannungen (etwa Boko Haram im Norden) sowie Konflikten um Ressourcennutzung (Erdöl) auf eher wackligen nationalen Demokratie-Füssen stehen. Da fehlt es gerade noch, dass mit einer politisch motivierten, auf Schuld-Gefühlen basierenden Rückgabe der mit einer bereinigten Geschichte versehenen Kulturgüter solche Prozesse noch angeheizt werden.

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Details zu Buch und Autorin
  Brigitta Hauser-Schäublin ist Ethnologin und Publizistin. Die Schweizerin lehrte als Professorin bis 2016 an der Universität Göttingen. Ihr Aufsatz "Provenienzforschung zwischen politisierter Wahrheitsfindung und systemischem Ablenkungsmanöver" erscheint dieser Tage in dem Band "Geschichtskultur durch Restitution?" im Böhlau-Verlag.
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Zu dem Artikel Handel, Restitution und Afrika von Peter Herrmann

So ziemlich das Dümmste was man als Ethnologin verzapfen kann. Viola König.